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Der Gummi-Boom – 19. und 20. Jahrhundert

Veröffentlicht am 30. September 2014 - 22:10h

Para rubber treeAb der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekommt Amazoniens Wirtschaft neuen Auftrieb und seine Bewohner schöpfen neue Hoffnung: Auf dem Weltmarkt wächst die Nachfrage nach einem Rohstoff, der den Eingeborenen schon in präkolumbianischer Zeit bekannt war, und den sie als milchigen Saft aus einem Baum “zapften“ – sie nannten ihn “Cao’ochu“ (cao = Baum – ochu = Träne), den “Baum der Tränen“. Aus seiner getrockneten Masse fertigten sie praktische Utensilien für den Haushalt, Sandalen, Hüte, Jacken und vor allem elastische Bälle, mit denen sie sich schon damals bei verschiedenen Ballspielen vergnügten.

Um die Ursachen zu verstehen, die in Amazonien zu einem der grössten Wirtschafts-Zyklen aller Zeiten geführt haben, gehen wir zuerst noch einmal ein bisschen zurück in die Zeit, als die Europäer den Milchsaft (Latex) und seine ausgehärtete Form “Kautschuk“ erstmals bei den Indios kennenlernten und anfingen, sich für seine Eigenschaften und Konsistenz zu interessieren. Unser Protagonist ist in diesem Fall der Franzose Charles Marie de la Condamine, der 1742 Eingeborene in Ekuador besuchte und sofort verstand, dass man aus dem Kautschuk ein kommerziell interessantes Produkt machen konnte.

1743 fuhr derselbe Franzose den Amazonas hinab, und als er dort auf die Omágua-Indios traf, bemerkte er, dass sie dasselbe elastische Material zur Herstellung von Behältern, Sandalen und Bällen benutzten, das er schon in Ekuador kennengelernt hatte. Bei einem Fest, das die Indios während seines Aufenthalts veranstalteten, bemerkte er, dass sie ihren Gästen, einem nach dem andern, ein alkoholisches Getränk aus einer Art Kautschuk-Spritze verabreichten. Die Omágua nannten diesen Rohstoff “Hevé“ – dem die Wissenschaftler später die Bezeichnung “Hevea brasiliensis“ gegeben haben, und weil sie ihn benutzten, um aus ihm Spritzen anzufertigen, nannten ihn die Portugiesen “Seringa“ (Spritze) und den Baum “Seringueira“.

Die Bedingungen für ein gutes Wachstum dieser Pflanze sind “Terra firme“ – also ein Boden, der zu keiner Jahreszeit überschwemmt wird, wasserdurchlässig und von Flüssen weiter entfernt ist – mit dauerhaft warmem Klima, zirka 1.800mm Regen jährlich, auf Terrains unter 800 Metern. Der wild wachsende “Seringueira“ (Kautschukbaum) findet sich in der Regel weit verteilt innerhalb des Regenwaldes – um sich vor Parasiten und Krankheiten zu schützen.

Ein französischer Ingenieur, er hiess François Fresnau, wurde 1747 nach Cayenne (Französisch Guyana) entsandt, um das dortige Fort zu rekonstruieren. In seiner freien Zeit studierte er die verschiedenen Kautschukbäume und identifizierte den Hevea brasiliensis als die Spezies mit der ergiebigsten Latex-Produktion. Darüber hinaus sah er für diesen neuen Rohstoff eine Menge weiterer Anwendungsmöglichkeiten voraus, wie zum Beispiel für Taucheranzüge (nach damaligem Muster), Planen und Markisen, Gefässhenkel, Patronentaschen, Schuhe und Zaumzeug für die Reiterei. Daraufhin begann man den erhärteten Latex nach Europa und den USA zu exportieren, wo man seine Tauglichkeit für verschiedene Produkte testete.

1839 entwickelte der amerikanische Chemiker und Amateurforscher Charles Goodyear ein chemisch-technisches Verfahren, das den Kautschuk extrem resistent gegen chemische und klimatische Einflüsse sowie gegen jedwede mechanische Beanspruchung machte – er nannte es “Vulkanisation“ – den vulkanisierten Kautschuk bezeichneten die Amerikaner fortan als „Rubber“ (Gummi), und diese Bezeichnung setzte sich weltweit durch.

Im Jahr 1867 wurde der Amazonasstrom für die internationale Seeschifffahrt geöffnet – Brasilien gründete aus diesem Anlass zwei Gesellschaften: die “Fluvial Paraênse“, in Belém, und die “Fluvial do Alto Amazonas“, in Manaus. Der Amazonas war der einzige Strom der Welt, der für die internationale Handelsschifffahrt frei befahrbar war.

Nachdem man in den USA ein paar Jahre mit der Verbesserung der Vulkanisation experimentiert hatte, benutzte man den Gummi nun nicht nur zur Produktion von Schuhen – übrigens von höchster Qualität – sondern man hatte inzwischen gelernt, den elastischen Gummi auch für Regen- und Schutzkleidung, sowie die verschiedensten Artefakte, wie Pneus für Fahrräder oder Dichtungsringe für Maschinen zu verarbeiten.

Ein anderer genialer amerikanischer Erfinder, John Boyd Dunlop, stellte 1888 den ersten, von der Felge trennbaren, Fahrradreifen aus Gummi her. Die Fahrräder entwickelten sich damals geradezu explosiv, und folglich wuchs auch die weltweite Nachfrage nach Gummireifen genauso rasant. 1894 gab es zirka 250.000 Fahrräder allein in Frankreich, deshalb verwandelte sich der Rohstoff Latex ab Anbruch des 20. Jahrhunderts in eines der begehrtesten Produkte auf dem Weltmarkt (und die Zahl der Fährräder war bis zum Ersten Weltkrieg auf fünf Millionen angewachsen).

Gute Nachrichten für die Menschen in Amazonien: Die Welt verlangte nach Gummi, und die Hevea brasiliensis war ein endemischer Baum des Amazonas-Regenwaldes. Wie der Historiker Roberto Santos berichtet, fingen 1850 zirka 5.300 Latex-Sucher an, den plötzlich so wertvoll gewordenen Rohstoff der Kautschukbäume anzuzapfen, in Gefässen zu sammeln und über den Lagerfeuern zu “räuchern“ (durch Hitzeeinwirkung in die verschiffbaren Kautschuk-Ballen umzuwandeln) – 1912 waren bereits mehr als 190.000 in den weit verstreuten Latex-Sammellagern im Amazonas-Regenwald beschäftigt.

Der englische Botaniker Richard Spruce beschrieb die Situation jener Zeit so: “Der aussergewöhnlich hohe Preis, den man 1853 in Pará für den Kautschuk bezahlt, hat die Menschen aus ihrer Lethargie gerissen. Die Handwerker haben ihre Werkzeuge beiseite gelegt, die Zuckerproduzenten haben ihre Fabriken verlassen und die Indios ihre Felder – sodass Zucker, Cachaça und selbst Maniok nicht mehr in ausreichender Menge produziert werden können…“

Aus dem kargen, trockenen brasilianischen Nordosten machte sich ein Trupp von 60.000 “Nordestinos“ auf, um in Amazonien das “Weisse Gold“ zu fördern. Und so entstanden entlang der Flüsse, in deren Einzugsgebiet die Hevea brasiliensis besonders häufig vorkam, zum Beispiel am Rio Tapajós, zahlreiche Siedlungen. Interessant, dass mehr als 90% der Latex-Extraktion auf brasilianischem Boden stattfand, den Rest teilten sich Peru, Bolivien und Kolumbien.

Seit Anfang des Gummi-Zyklus liessen sich auch ausländische Unternehmen sowohl in Belém als auch in Manaus nieder, um die Kommerzialisierung des Latex zu kontrollieren. Dieses brasilianische Monopol bildete eine Pyramide aus Tausenden von Latex-Zapfern, die Hunderte von Geschäftsleuten belieferten, welche ihrerseits das kostbare Produkt an wenige, mächtige Unternehmen in Manaus, Belém und Iquitos verkauften.
Der so genannte Gummi-Boom war der erste grosse Wirtschafts-Zyklus in Amazonien – er erlebte seinen absoluten Höhepunkt zwischen 1879 und 1912. Und während dieser Zeit verfünffachte sich die Bevölkerung der Dschungelstadt Manaus – von 10.000 Personen, um 1890, auf 50.000 um 1900. Man nannte die Stadt liebevoll “das Paris der Tropen“, wegen seiner vielen Bistros, Kabaretts und Nachtlokale.

Manaus, die Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, und Belém, die Hauptstadt des Bundesstaates Pará, waren zu jener Zeit die modernsten Städte Brasiliens und die blühendsten der Welt. Besonders Belém – nicht nur wegen seiner strategisch günstigen Position fast am Meer – sondern auch, weil sich dort die grösste Zahl an Villen der Gummi-Barone, die Bankhäuser und andere bedeutende Institutionen befanden. Sowohl Belém als auch Manaus hatten bereits elektrisches Licht und ein unterirdisch verlegtes Abwassersystem.

Teatro AmazonasIn Manaus verkehrte die erste elektrische Strassenbahn Brasiliens, über aufgeschüttete Sümpfe wurden breite Avenidas konstruiert, imposante, luxuriöse Gebäude wuchsen aus dem Boden, wie das berühmte “Teatro Amazonas“, der Gouverneurs-Palast, der Zentrale Markt oder das Zollgebäude, dessen Einzelteile aus England importiert wurden, und andere kostspielige Extravaganzen. Unter dem damaligen Intendanten von Belém, Antônio Lemos, entstand ein ganz neues urbanistisches Konzept, mit öffentlichen und privaten Prachtbauten, diversen Palästen und Residenzen – das “Teatro da Paz“ oder der “Palácio Antônio Lemos“ gehören noch heute zu den beeindruckendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Das “Cinema Olympia“ war das erste Kino der Stadt und ist heute das älteste – damals der luxuriöseste und modernste Filmpalast seiner Zeit. Er wurde am 21. April 1912 eingeweiht, just als der Stummfilm weltweit im Kommen war.

Das “Grande Hotel von Belém“ und das “Teatro da Paz“ waren die beliebtesten kulturellen Treffpunkte der Hauptstadt-Elite. Hier erschienen sie elegant, nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, um an einer Versammlung teilzunehmen oder einem Konzert beizuwohnen, in einem fürstlichen Ambiente internationaler Prägung.

Der europäische Einfluss war sowohl in Belém als auch in Manaus unverkennbar – zuerst in der Architektur, dann in der Lebensart jener, die durch das Latex-Geschäft schnell reich geworden waren. Es wurde erzählt, dass die Gummi-Barone ihre Söhne zum Studium an die Sorbonne schickten, und dass sie sogar ihre Wäsche in Paris waschen liessen. Fest steht allerdings, dass das 19. Jahrhundert für Amazonien die beste Wirtschaftsphase aller Zeiten gewesen ist. Dank des Latex lag das Pro-Kopf-Einkommen in Manaus zweimal so hoch als in den Kaffee produzierenden Bundesstaaten Brasiliens (São Paulo, Rio de Janeiro und Espirito Santo).

Das Acre-Territorium wird von Brasilien annektiert

Zwischen den brasilianischen und den bolivianischen Latex-Sammlern entbrannte ein Streit, der in einem tödlichen Konflikt ausartete, weil die Brasilianer, ungeachtet der Grenze, auf den Flüssen Rio Acre, Rio Purus und Rio Juruá ins damalige bolivianische Territorium eindrangen. Die Bolivianer begannen daraufhin, von den Brasilianern Steuern zu verlangen, um damit deren Latex-Diebstahl zu kompensieren, was sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zu einem ernsten territorialen Konflikt ausweitete. Das brasilianische Militär, unter seinem Kommandanten Plácido de Castro, griff 1902 die Bolivianer an, besiegte sie und erklärte die Unabhängigkeit der “Republik Acre“.

Im Jahr darauf wurde die Region durch den Vertrag “Tratado de Petrópolis“ von Brasilien annektiert, nachdem sich die beiden Länder auf einen Tausch geeinigt hatten: Bolivien erhielt im Gegenzug 3000 Quadratkilometer Land zwischen dem Rio Madeira und dem Rio Abunã, in Amazonien, ausserdem sah der Vertrag eine Verlängerung der im Bau befindlichen “Madeira-Mamoré-Eisenbahn“ vor – von der brasilianischen Grenzstation Guajará-Mirim bis zum bolivianischen Riberalta – um damit den bolivianischen Kautschuk ebenfalls über die anschliessenden Wasserstrassen Madeira-Amazonas bis zum Exporthafen Belém transportieren zu können (siehe nachfolgendes Kapitel “Die Gummibahn“). Allerdings, durch verschiedene missliche Umstände, wurde dieser letzte Gleisabschnitt nie gebaut.

Das “Territorium Acre“ wurde erst 1981 in den Status eines brasilianischen Bundesstaates erhoben, der zu Ehren des Feldmarschalls, Ingenieurs, Dschungelpioniers und Indio-Freundes, Cândido Mariano da Silva Rondon, den Namen “Rondônia“ bekam.

Die Gummi-Bahn

Die Idee dieser Eisenbahnstrecke entstand eigentlich in Bolivien, als der bolivianische Ingenieur José Augustin Palácios die lokalen Behörden davon überzeugte, dass der beste Weg ihrer Exporte nach Europa und den USA durch das Amazonasbecken zum Atlantik (Belém) führte. Die andere Möglichkeit über die Anden zum Pazifischen Ozean verwarf er – erstens wegen der enormen Probleme eines Transports über diese Gebirgskette, und zweitens wegen einem zusätzlichen Schiffstransports um das Kap Horn herum.

Durch den Vertrag “Tratado de Petrópolis“ (1903), zwischen Bolivien und Brasilien, ergab sich schliesslich die Gelegenheit zu einer Verwirklichung dieser Idee, denn auch Brasilien war daran interessiert, seine Kautschuk-Produktion aus dem nun offiziell annektierten Acre-Territorium auf dem schnellsten Weg zu seinem Exporthafen Belém transportieren zu können. Behindert wurde dieses gemeinsame Interesse durch zahlreiche Wasserfälle und gefährliche Stromschnellen im Oberlauf des Rio Madeira, deren Überwindung bis dato nur geschickten Indios in zerbrechlichen Kanus, mit mühsamen, zeitaufwendigen Umgehungen, möglich war. Die Lösung, darin waren sich beide Länder einig, würde eine Eisenbahn bringen, durch die man jenen gefährlichen Teil der Wasserstrasse umfahren könnte.

Nach zwei vergeblichen Versuchen, die Trasse in den dichten Dschungel zu schlagen und die Schienen über sumpfiges Gelände zu verlegen, verbreitete sich der Mythos, dass es unmöglich sei, diesen Auftrag auszuführen – noch bevor die ersten Schienen lagen, war die Bahn unter der lokalen Bevölkerung bereits als “Ferrovia do Diabo“ (Eisenbahn des Teufels) verrufen. Der amerikanische Unternehmer Percival Farquhar nahm schliesslich zu Beginn des Jahres 1907 die Herausforderung an und meinte: “…das wird meine Visitenkarte“!

Die Geschichte dieser Eisenbahn, die später als die der brasilianischen “Gummi-Bahn“ bekannt wurde, ist Teil eines historischen Erbes, nicht nur Brasiliens, sondern auch der amerikanischen und englischen Konstrukteure, sowie der Chinesen, Spanier, Dänen, Kariben, Italiener, Deutschen und vielen anderen internationalen Gleisarbeitern, von denen zirka 6.000 auf tragische Art und Weise ihr Leben liessen: Getötet durch Pfeile von wilden Indios, durch Insektenstiche und Schlangenbisse, durch Krankheiten, wie Malaria, Gelbfieber, Typhus, Tuberkulose, Beriberi und andere – “jede Eisenbahnschwelle kostete ein Leben“, dieser Mythos haftet der “Gummi-Bahn“ bis heute an.

Die Strecke von Guajará-Mirim, an der bolivianischen Grenze, bis nach Porto Velho, der heutigen Hauptstadt des Bundesstaates Rondônia am Rio Madeira – insgesamt 366 Kilometer Schienen – wurde schliesslich am 30. April des Jahres 1912 vollendet und eingeweiht. Von besonderer Tragik ist jedoch die Tatsache, dass genau im Jahr 1912 sich auch das Ende des Kautschuk-Booms in Brasilien abzuzeichnen begann!

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