Naturkautschuk ist ein faszinierendes Material: es entsteht im Inneren eines Baumes als milchiger Saft und bleibt dort ungenutzt, ausser man zapft es regelrecht ab. Dafür wird die Rinde des Kautschukbaumes eingeritzt, durch die so geschaffenen Rillen tropft der elastische Werkstoff in ein Gefäß. Es ist ein extrem nachhaltiges Verfahren, denn die Produktion reißt nie ab. So kann turnusmäßig immer wieder der gleiche Baum angezapft werden, verfügt man über eine Plantage oder eine größere Anzahl der wild im Amazonasgebiet wachsenden Hevea brasiliensis.
Noch heute sind die sogenannten Seringueiros, die Kautschukzapfer des Amazonas, täglich unterwegs, um das Naturprodukt zu gewinnen. Auch wenn der Pflanzensaft wirtschaftlich kaum noch relevant ist – seit über 100 Jahren existieren diverse Verfahren zur künstlichen Herstellung für Gummi – gibt es doch noch einige Anwendungsgebiete. So sichert seit ein paar Jahren mit staatlicher Hilfe errichtete Fabrik im tiefen Amazonas die Existenz der Waldbewohner und hält sie gleichzeitig davon ab, den kostbaren Urwald für den Anbau von Mais oder die Viehzucht zu roden. In der modernen Industrieanlage werden nun Kondome aus Naturlatex hergestellt. Sie sind nach Meinung vieler Konsumenten deutlich elastischer und vor allem lösen sie deutlich weniger Allergien aus als die syntetisch hergestellten Exemplare.
Biopiraterie und syntetisches Gummi zwingt Brasilien in die Knie
Für die heute schier unüberschaubare Anzahl der weltweit erhältlichen Autoreifen namhafter Hersteller wurde schon 1909 durch die Patentvergabe an den deutschen Chemiker Fritz Hofmann der erste Ersatz für den in Brasilien gewonnenen Naturkauschuk gefunden. Damals benötigte man noch Kohle und Kalk, seit gut 50 Jahren ist Erdöl nun der wichtigste Ausgangsstoff. Die Suche nach dem syntetischen Produkt erfolgte jedoch keineswegs aus humanitären Gründen, um die Arbeitsbedingungen bei der Gewinnung des weißen Saftes machte man sich damals kaum Gedanken. Es war vielmehr der Wettlauf um die größten Produktionsmengen und die wirtschaftliche Unabhängigkeit und die Durchbrechung des Anbau-Monopols. Dieses, lange in Besitz Brasiliens, war erst gut 30 Jahre zuvor unterwandert worden, als der Engländer Henry Wickham trotz Androhung der Todesstrafe Samen nach Asien schmuggelte, wo nunmehr ebenfalls riesige Kautschuk-Plantagen entstanden.
Für Brasiliens Kautschukindustrie bedeutete die Biopiraterie und die Entwicklung von syntetischem Gummi das Aus. Der unglaubliche Reichtum des Amazonasgebietes zur Jahrhundertwende verblasste mehr und mehr, die Kautschukbarone verloren nach und nach durch sinkende Weltmarktpreise ihr Vermögen. Und nun wurde auch langsam das ganze Ausmass von jahrzehntelanger Ausbeutung sichtbar. Der Anbau von „Blutgummi“ lohnte sich selbst bei Einsatz illegaler Sklaven nicht mehr, wie der deutsche Autor Karl Fischer in seinem Buch 1938 treffend ausführte.
Der Blutgummi ist besiegt. Das furchtbare Sterben hat aufgehört. Es lohnt sich nicht mehr, Neger und Indianer mit der Peitsche in den Wald zu treiben. Die Paläste in Manaus verfallen, die prachtvolle Oper sieht keine europäischen Gäste mehr, die rauschenden Nächte von Iquitos weichen der Stille des Urwalds.
Karl Fischer – Blutgummi: Roman eines Rohstoffes, 1938
In den folgenden Jahrzehnten interessierte sich kaum jemand mehr für den Kautschuk-Produktion in Brasilien, die Plantagen in Asien brachten hohe Erträge – im Amazonasgebiet wollte der Baum sich einfach nicht kultivieren lassen und einfach nur wild wachsen. Diese Erfahrung machte auch Henry Ford mit seinem visionären Projekt Fordlândia, dass in den 1920er Jahren letztendlich Millionen an US-Dollar verschlang und heute im Regenwald verrottet. Auch hier zahlten viele Arbeiter mit ihrem Leben, weniger durch die immer noch harten Arbeitsbedingungen als durch die gefürchteten Tropenkrankheiten Malaria und Gelbfieber. So darf man durchaus auch im Fall von Fordlândia von „Blutgummi“ sprechen.
In den letzten Jahrzehnten hingegen ist der Naturkautschuk in Brasilien als Nischenprodukt auferstanden. Fernab der Gier multinationaler Unternehmen wird der flexible Werkstoff heute in seinem natürlichem Umfeld und in Kleinstbetrieben von Hand produziert. Die Kautschukzapfer werden für ihre „Milch des Amazonas“ größtenteils überdurchschnittlich entlohnt, der Staat subventioniert die Anstrengungen teilweise großzügig. Aber dadurch ist aus dem todbringenden „Blutgummi“ nun für ein paar tausend Familien im schier undurchdringlichen Regenwald eine Existenzgrundlage erwachsen, bei der die Nachhaltigkeit des Ökosystems im Vordergrund steht.