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Amazonien – 1/2 Jahrhundert später » Seite 2

Veröffentlicht am 15. Oktober 2014 - 07:02h

Die 1970er Jahre

In diesem Jahrzehnt hat eine brasilianische Militärregierung das Sagen. Für sie haben die folgenden Pläne Vorrang: Ackerbauern aus dem Zentralen Süden und dem Nordosten nach Amazonien locken, um mit ihnen grosse Flächen des Regenwaldes zu besetzen – die vorhandenen Mineralienlager ausbeuten und das hydroelektrische Potenzial der grossen Flüsse Amazoniens ausschöpfen.

Gigantische Projekte wurden in Amazonien implantiert – zum Beispiel die Erschliessung des Eisenerzlagers in Carajás und des Goldes am Rio Trombetas – der Bau von Wasserkraftwerken, wie “Tucuruí“ – die Eröffnung von Strassen, wie die “Transamazônica“ und die “Santarém-Cuiabá“ – sowie die Einrichtung von Rinderzucht-Betrieben, für die riesige Flächen Regenwald abgebrannt wurden. In dieser Periode erfuhr Amazonien einen enormen Bevölkerungszuwachs – von 11,2 Millionen im Jahr 1980, auf 24 Millionen im Jahr 2010.

Das “Jari-Projekt“, gelegen am Ufer des Rio Jari, ist gegenwärtig ein Unternehmen zur Produktion von Zellulose und nativem Holz mit Zertifikat. Es wird administriert von der Gruppe ORSA. Das Projekt wurde 1967 von dem amerikanischen Milliardär Daniel Ludwig in die Wege geleitet, der an der Grenze zwischen Pará und Amapá ein Areal von 1,7 Millionen Hektar erwarb – fast so gross wie Sergipe, der kleinste Bundesstaat Brasiliens – um dort eine Aufforstungsprojekt mit besonders schnell wachsenden Bäumen zu starten. Das Projekt war ausserdem auch für die Mineralienschürfung, Viehzucht und Landwirtschaft ausgelegt.

Für sein Projekt liess Ludwig eine Zellulosefabrik in Japan bauen, die er anschliessend auf einer schwimmenden Plattform nach Brasilien und bis zum Rio Jari schleppen liess – ein wahnwitziges Unternehmen, das wider Erwarten, ohne grössere Probleme, gelang. Der Distrikt von Monte Dourado, dem Sitz des Unternehmens, wurde mit Häusern für die Angestellten bestückt, einem Hospital, Schulen und einem Flughafen. 1982 hatte Monte Dourado 30.000 Einwohner. Im selben Jahr gab Ludwig die Anlage jedoch wieder auf, wegen sich häufender finanzieller Verluste, fehlender Unterstützung seitens der Militärregierung und harter Kritik aus nationalistischen Reihen. Das “Projeto Jari“ wurde an ein Konsortium aus 24 brasilianischen Unternehmen verkauft – später an die Gruppev ORSA.

Die Folgen des Strassenbaus am Beispiel der “Transamazônica”

Ganz anders als man angenommen hatte, führten die wenigen Pisten, die unter Brasiliens Militärregierung durch die immergrüne Wildnis des Regenwaldes in der Absicht getrieben wurden, diese andere Hälfte des Riesenlandes endlich wirkungsvoll erschliessen zu können, zu einer weiträumigen Verwüstung der Natur und zum Völkermord.

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie BR-230, genannt “Transamazônica”, beginnt mit dem “Kilometer 0” in dem kleinen Ort Cabedelo, unweit der Hauptstadt João Pessoa (Bundesstaat Paraíba) an der Atlantikküste, wendet sich anfangs gen Norden und verläuft ab der Stadt Marabá, in etwa 200 bis 300 km südlicher Entfernung vom Amazonasstrom, in Richtung Westen. Geplant war sie bis zur peruanischen Grenze, wo sie vom Nachbarland bis zum pazifischen Ozean weitergeführt werden sollte – das war der Plan. Die Realität sah jedoch ganz anders aus. Zwar wurde der grösste Teil der “Transamazônica“ zwischen 1970 und 1978 teilweise fertiggestellt – 4.223 Kilometer Erdpiste – jedoch fehlt eine durchgehende Verbindung nach Peru bis heute. Das ist zum einen dem schwierigen Gelände anzulasten, das mit zahlreichen, in süd-nördlicher Richtung verlaufenden Amazonas-Zuflüssen die Strassenarbeiten behindert, weil sie während der Regenzeit über die Ufer treten und jede Strassenplanung zunichte machen – zum andern hat sich die Meinung der Politiker in Peru und Bolivien inzwischen insoweit geändert, als sie befürchten, durch eine Vervollständigung des Strassennetzes würden sie Brasiliens Hegemonie weiter begünstigen.

Das Transamazônica-Projekt sah ausserdem vor, bis 1980 mindestens 1 Million Familien entlang dieser Strasse durch den Regenwald anzusiedeln. In der Realität waren es dann nur 2.000 Familien, die vor der Trockenheit des Nordostens in die feuchtwarme Wildnis geflohen waren – Analphabeten die meisten, die sich ihren neuen Lebensraum in den Wald brannten und feststellen mussten, dass der Urwaldboden zu schwach war, mehr als eine Ernte hervorzubringen. Aber da es genug davon gab, legten sie Feuer und ertrotzten dem Wald weitere Felder fürs nächste Jahr – so lösten die Siedler die erste Vernichtungswelle des Regenwaldes aus.

Jedoch die zweite Vernichtungswelle war noch viel schlimmer: Kaum hatten die riesigen Bulldozer eine Bresche in den immergrünen Vorhang gerissen, folgten ihnen die Lastwagen der Sägewerksbesitzer, die ebenfalls dem Ruf nach der definitiven Kolonisierung Amazoniens gefolgt waren – jedoch mit ganz anderen Interessen. Ihre Handlanger suchten rechts und links der Piste nach Edelhölzern, die sie mit Motorsägen in Minutenschnelle umlegten, wobei der Fall dieser Baumriesen jedes Mal eine klaffende Wunde in die miteinander vernetzte Flora riss und auch der Fauna empfindliche Verluste beibrachte – mit den Abtransport der Stämme wurde die Verwüstung nur noch schlimmer. Edelholz war besonders im Ausland gefragt und brachte den Sägewerken, die in Amazonien plötzlich überall aus dem Boden schossen, hohe Gewinne ein. Es dauerte Jahre, bis die Regierung in Brasília auf diesen Raubbau reagierte und die ersten Geldstrafen gegen illegale Holzhändler verhängte – die jedoch so niedrig angesetzt waren, dass diese Verbrecher einfach weitermachten. Das Problem ist bis heute noch nicht gelöst.

Und bis heute nicht gesühnt sind auch die Verbrechen, welche man als die dritte Vernichtungswelle, im Zusammenhang mit dem Strassenbau durch den Regenwald Amazoniens, bezeichnen kann: die Vernichtung indigener Völker, das treffende Wort ist Völkermord oder Genozid. Ausgelöst nicht nur durch den Bau der “Transamazônica“, sondern auch anderer Strassen, die durch kaum erforschte Gebiete des Landes getrieben wurden, ungeachtet ihrer eingeborenen Bewohner, die verständlicherweise ihren Lebensraum zu verteidigen suchten. Seit 1964, dem Beginn der Militärdiktatur, wurden verschiedene indigene Volksgruppen exterminiert, um den Strassenbau in Amazonien nicht aufzuhalten und einwandernden Bauern, Holzfällern, Goldsuchern, Bodenspekulanten und anderen rücksichtslosen Unternehmern, nicht im Weg zu stehen.

Die “Tapayuna“ – wegen ihrer Lippenpflöcke auch “Beiços de Pau“ genannt – wurden erst 1968 am Rio Arinos, im Bundesstaat Mato Grosso, entdeckt. Weil es in ihrem Territorium Edelholz und wertvolle Mineralien gab, schenkten Besucher der zirka 400 Personen zählenden Gruppe verschiedene Lebensmittel, die sie mit Arsen vergiftet hatten. Die 41 Überlebenden, wurden vom SPI in den Xingu-Park übersiedelt. Die Täter wurden nie identifiziert.

Die “Cinta Larga“ – eines ihrer Dörfer wurde von Pistoleiros überfallen, die alle Bewohner kaltblütig erschossen. Bei einer Anhörung vor Gericht sagte einer der Mittäter aus, dass der Anführer seiner Truppe eine indigene Frau mit einem Baby einfing, das Kind durch den Kopf schoss, die Mutter an den Füssen an einem Baum aufhängte und sie dann bei lebendigem Leib mit einer Machete in Stücke hackte. Auf die Frage nach dem “warum“ sagte er, dass die Indios auf einem grossen Mineralienvorkommen sässen und das Land nicht freiwillig verlassen wollten.

Von einer weiteren Aufzählung solcher Details möchten wir absehen, es sollte jedoch erwähnt werden, dass viele weitere Indio-Völker solchen Gräueltaten ab 1964 zum Opfer fielen – vergiftet, vom Flugzeug aus mit Dynamitladungen bombardiert, mit ansteckenden Viren geimpft, oder einfach erschossen.

Der systematische Völkermord

indios-amazonienIm März 1968 wurde ein Bericht vom brasilianischen Innenministerium veröffentlicht, in dem mit fast brutaler Deutlichkeit die Ergebnisse einer Untersuchungskommission, bezüglich der Verbrechen gegen die Indiovölker, enthüllt wurden. Das Echo bei der Menschenrechtskonferenz der UNO war so empörend, dass mehrere Staaten Brasilien bezichtigten, den Massenmord an den Indios zu dulden. Die brasilianische Regierung erklärte daraufhin, dass die Schuldigen wegen ihrer Verbrechen vor Gericht gestellt würden. Dabei kam aufgrund von Zeugenaussagen ans Licht, dass ganze indigene Völker nicht nur vertrieben, sondern buchstäblich ausgerottet worden waren.

Als der brasilianische Innenminister, General Albuquerque Lima, damals zurücktrat, gab er zu, dass der staatliche Indio-Schutz (SPI) sich von einem Schutz-Organ ins Gegenteil, nämlich zur Unterdrückung der Indios, verwandelt habe, und man wisse jetzt, dass Verbrechen nicht nur im stillschweigenden Einverständnis, sondern teilweise auch unter Mitwirkung des SPI geschahen, weshalb die Organisation aufgelöst worden sei.

In einem vertraulichen Gespräch bezweifelte der Generalstaatsanwalt Jader Figueredo, ob unter den rund 800 Beamten des SPI wenigstens zehn schuldlos freigesprochen werden könnten. Die Verhandlung ergab, dass die Vernichtung der Indios in erster Linie eingewanderten Siedlern, Mineralienschürfern, Edelholzhändlern und korrupten Politikern zuzuschreiben war, die ihre Wohngebiete an sich reissen wollten.

Nachdem die Untersuchungskommission alle Posten des SPI im ganzen Land inspiziert, und vor allem zahlreiche Zeugenaussagen aufgenommen und noch mehr Beweismaterial gesammelt hatte, ergab sich ein Bild ungeheurer Verbrechen:

Von den 19.000 Mundrucu (1940) waren noch 1.200 übrig, die Guarani waren von 5.000 auf 300 dezimiert worden, von 4.000 Carajá gab es noch 400, von den 10.000 Cinta-Larga hatten 500 überlebt – und so ging es weiter. Vom einen oder anderen Volk lebte nur noch eine Familie, oder noch ein oder zwei Mitglieder. Generalstaatsanwalt Figueiredo prangerte unter anderem die „Unterschlagung von Hilfsgeldern, Duldung sexueller Perversionen, Vergewaltigungen und Mord“ an – die gesammelten Indizien waren erdrückend und ergaben ein Bild des SPI als einer korrupten Organisation, die auch vor schlimmsten Verbrechen nicht zurückschreckt.

Major Luiz Neves, dem Leiter des SPI wurden insgesamt 42 Straftaten angelastet – darunter die Mitwirkung an mehreren Morden, illegalem Landverkauf und etlichen Unterschlagungen in Millionenhöhe.

Eine Mitarbeiterin des brasilianischen Bundeskriminalamts kam zu dem Schluss, dass sich seit der indigenen Versklavung zu Zeiten des Gummi-Booms kaum etwas geändert hat, denn sie hatte festgestellt, dass auf beiden Seiten der Grenze die Indios immer noch von reichen Grundbesitzern in einer Art Sklaverei gehalten wurden – und dass sowohl Kolumbianer wie Peruaner an brasilianischen Flussufern Ticuna-Indios jagten.

Nach Auflösung des SPI 1965 wurde die FUNAI (Fundação Nacional de Assistência ao Índio) gegründet – dasselbe in Grün – und zum Teil mit aus dem SPI übernommenen Beamten. Und inzwischen weiss man, dass eventuelle Zweifel durchaus berechtigt waren…

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