Am Ufer des Rio Cristalino halten wir das Boot an und betreten einen Weg, der uns durch den Amazonas-Regenwald führt. Ich bin der Guide einer Gruppe europäischer Touristen, die sich fasziniert von der Biovielfalt Brasiliens zeigen. Mein sachkundiger Begleiter ist José, der zwischen zwei indigenen Stämmen im Interior von Pará aufgewachsen ist. Nach einer kurzen Wanderung entdecke ich ein eigenartiges Insekt, das ich noch nie zuvor gesehen habe – neugierig gehe ich näher ran und spüre plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. ”Vorsicht ! Das ist eine ’Cobra-Cigarra’! Sie tötet dich mit einem Stich“!
José erklärte mir, dass dieses Insekt ein tödliches Gift besitze, mit dem es Bäume austrocknet, Tiere und erwachsene Männer töten kann. “Die ’Schlangen-Zikade’ fliegt auf deine Brust und injiziert ihren Stachel direkt in dein Herz“! Was er da sagte, schien mir jedoch so übertrieben, dass es mich kaum erschreckte, aber ich beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Die Fulgora laternaria (aus der Familie Fulgoridae )– das ist der wissenschaftliche Name des kuriosen Insekts, das in Brasilien auch als “Jequitiranaboia“ und im Spanisch sprechenden Südamerika als “Machaca“ bekannt ist – ein Insekt, um das sich zahlreiche Mythen und Legenden ranken. Ausser jener Geschichte, die mir José erzählt hatte, entdeckte ich eine andere, noch unglaublichere, die der Volksglaube in einigen Ländern Südamerikas diesem Insekt zuschreibt: Wenn ein Mensch von ihm gestochen wird, muss er binnen 24 Stunden Sexualverkehr haben, sonst stirbt er. Andere Menschen glauben, dass der Stich des Insekts nicht tödlich ist, sondern ein Aphrodisiakum. In Kolumbien existiert der Ausdruck “Picado por la machaca“ (von der Machaca gestochen), den man gegenüber jenen verwendet, die einen grossen sexuellen Appetit haben.
Diese Legenden machten mich erst recht neugierig, und ich konsultierte ein Tier-Fachbuch vom Verlag Kindersley, (mit exzellenten Fotos, informativen Info-Grafiken und guten Beschreibungen der Spezies), um nach Tatsachen zu forschen.
Und ich entdeckte, was ich schon ahnte, nämlich, dass die Fulgora laternaria keinesfalls so schrecklich ist, wie ihr Ruf. Das Insekt ernährt sich von milchigen oder harzigen Baumsäften, die es von Stämmen und Ästen mittels eines langen, spitzen Rüssels absaugt. Was einem Betrachter des Insekts allerdings sofort auffällt und dem 65 bis 105mm grossen Tierchen wohl seinen gefährlichen Ruf eingebracht hat, ist ein blasenartiger, 28mm messender, und nach oben gekrümmter Kopffortsatz der, von oben betrachtet, einer Erdnuss nicht unähnlich ist, von der Seite ähnelt dieser bizarre Fortsatz dagegen einem Alligator- oder Schlangenkopf, und die dunkle Zeichnung verstärkt noch diesen Eindruck.
Diese Ähnlichkeit mit Reptilien und das Vorhandensein eines zugespitzten Saugrüssels, der mit einem giftigen Stachel verwechselt werden kann, sind wahrscheinlich die Basis für jenen ungeheuerlichen Volksglauben. Aber vielleicht steckt in diesem Aberglauben doch ein Fünkchen Wahrheit: Wenn man die Fulgora laternaria anfasst, wird sie sich mit ihrem spitzen Saugrüssel verteidigen. Und es ist durchaus möglich, dass sich das Insekt von einer für den Menschen toxischen Pflanzensubstanz ernährt hat oder von Bakterien infiziert ist.
Wenn also jemand unter solchen spezifischen Bedingungen verletzt wird, wäre es möglich, dass es ihm übel wird und er, wer weiss, sogar stirbt. Jedoch bis heute gibt es keinen einzigen registrierten humanen Todesfall in Brasilien durch die “Cobra-cigarra“.
Also gibt es keinen Grund, dieses Insekt zu fürchten. Es ist so wenig gefährlich wie eine normale Zikade. Und was das legendäre “Gegenmittel“ betrifft, so scheint dies eher dem frustrierten Versuch eines Mannes zuzuschreiben, der eine Frau ins Bett kriegen wollte!