Hoffnung auf Veränderungen durch die WM
Fast alle Brasilianer warten begierig auf die WM 2014, aber wenige sind so voller Erwartung wie eine Familie, die sich erst vor kurzem an der Strasse BR-319 niedergelassen hat – denn sie glauben, dass dieser Event Auswirkungen haben wird, die bis zu ihnen in die Wildnis Amazoniens gelangen werden, indem er endlich der Strasse zwischen Porto Velho und Manaus eine Asphaltdecke bescheren wird. Immerhin ist ja Manaus ebenfalls als Austragungsort der WM vorgesehen. Der Papa hofft, dass mit dem Asphalt auch Privatautos die Strasse regelmässig befahren werden und dem neuen Familienunternehmen, einem Hotel mit Restaurant, Gäste bringen werden. Gegenwärtig ist die BR-319 in bestimmten Abschnitten unbefahrbar, und die wenigen Fahrzeuge pro Tag kann man an einer Hand abzählen. “Meine Bäckerei verkauft lediglich 15 Brötchen am Tag“, sagt der Papa.
Die arbeitslosen Holzfäller
Das Fällen der Bäume im Regenwald war während der letzten Jahrzehnte der Motor des Städtchens Goianésia do Pará. Die Krise in diesem Sektor, eingeleitet durch die Bekämpfung des illegalen Raubbaus am Regenwald und durch die Verzögerung der Genehmigung von Wiederaufforstungsprojekten, hat das gesamte Munizip in den Kollaps getrieben. Ein Bahianer aus Salvador, 50 Jahre alt, steht seit zwei Jahren vor seinen beiden stillgelegten Sägewerken und einer ebenso stillgelegten Schreinerei. Das Städtchen hat 40.000 Einwohner, davon 6.000 Arbeitslose. Der grösste Arbeitgeber ist die Präfektur. Das Munizip bemüht sich um eine Diversifikation der Wirtschaft, indem es die Landwirtschaft auf den abgeholzten Flächen anzukurbeln versucht. “Wenn wir uns vor drei Jahren schon mit anderen Möglichkeiten befasst hätten, wären wir jetzt nicht in einer solchen Situation“, sagt er.
Indios streben nach Bildung
Die indigene Bevölkerung von Manaus übertrifft die der grössten Dörfer Amazoniens. Es gibt mehr als 12.000 Indios in der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas. Obwohl die sozialen Indikatoren auf einen niedrigen Lebensstandard dieses Bevölkerungsteils hinweisen, gibt es Ausnahmen. Eine solche Ausnahme ist ein junger Ticuna-Indio von 24 Jahren, der in einem Dorf im Munizip Benjamin Constant geboren wurde, an der Grenze zu Peru. Er hat erst im Alter von zehn Jahren die portugiesische Sprache erlernt. Er war Schüler eines indigenen Erziehungsprogramms, schloss in seinem Dorf die Schule ab, gewann dann ein Stipendium und ging nach Manaus, wo er in einer privaten Universität seinen Abschluss in Administration machte. Seit drei Jahren arbeitet er in einer Fabrik des Industriepols von Manaus und verdient 1.000 Reais (370 Euro) im Monat. Mit einem Akzent, der an die Bauern aus dem Inland São Paulos erinnert, kündigt er an: “Jetzt plane ich einen MBA (Master of Business Administration). Der Markt ist voller Konkurrenz, und ich will mich abheben“!
Der schwimmende Händler
Die so genannten “Regatões“ sind typische, regionale Hausboote, mit denen die “Mascates“ (fliegende bzw. Schwimmende Händler) die von jedweden anderen Versorgungsmöglichkeiten weit entfernten Kommunen mit allem versorgen, was sie zum Leben brauchen. Alle zwei Monate verlässt der aus dem Bundesstaat Pará stammende Händler den Hafen “Con Abaetuba“ (Pará), um einen Monat lang den Amazonasstrom hinauf zu fahren. Er hat 40 Tonnen an Waren und Gütern geladen: Salz, Kaffee, Zucker, Softdrinks, Kekse, Waschmittel und Viehsalz. Der Verkauf wird auf Kredit getätigt – der Kunde zahlt erst, wenn das Boot auf dem Rückweg wieder vorbeikommt. Seit 1986 unternimmt er regelmässig diese Versorgungstouren bis zur Grenze des Bundesstaates Amazonas: “Ich habe mehr als 200 Stammkunden, die eventuell mal länger brauchen, aber stets ihre Schulden bezahlen“, sagt er.
Schule in Amazonien
Seit 1989 gibt eine Lehrerin von 45 Jahren Unterricht in Kommunen von Flussbewohnern am Rio Negro. Gegenwärtig arbeitet sie in einer Siedlung mit zwölf Familien, etwa zwei Stunden per Boot vom Munizip Nova Airão, im Bundesstaat Amazonas, aus. Weil es nur einen weiteren Lehrer gibt, der sich mit ihr den Unterricht von 36 Schülern teilt, die in einem Alter zwischen 3 und 43 Jahren und vom Vorschulunterricht bis zum Ende der Volksschule dabei sind, gilt es zu improvisieren. Schüler unterschiedlicher Klassen – vom 1. bis 4. Jahr, zum Beispiel – teilen sich die Plätze in demselben Raum: “Ich versuche sie in Gruppen zu trennen, um ihnen den Kopf nicht zu verwirren. Aber es ist kompliziert, so zu arbeiten, weil die Inhalte unterschiedlich sind“, sagt sie. Ein weiteres Problem ist der Diesel-Generator, der ihnen abends nur zwischen 18:00 und 22:00 zur Verfügung steht.
Und der Tourismus funktioniert nicht
Ein Holländer, der 1991 zum ersten Mal als Executive der Shell in Brasilien war, entschloss sich 2002 eine Lodge im Regenwald zu gründen, in der Nähe von Manaus. Er glaubte, dass eine Investition in den Amazonas-Tourismus ein guter Deal sein könnte und investierte 2 Millionen Euro in sein Urwaldhotel, die er noch nicht wieder herausholen konnte. Er nimmt an, dass das Problem an der fehlenden touristischen Infrastruktur der Region liegt. Er sagt: “Seit Jahren höre ich in dieser Hinsicht nur Versprechungen. Die Agenturen arbeiten mit nur wenigen Programmen für unsere Region, und es gibt keinen Direktflug von und nach Europa“. Seit kurzer Zeit hat er nun einen Verein der Amazonas-Lodges gegründet, um gemeinsam mit anderen Lodge-Besitzern Wege zu finden, wie man den Tourismus ankurbelt.
Elektrische Energie – eine Kostbarkeit
Heute ist er 63 Jahre alt, der zehnte von zwölf Kindern einer Familie von Latex-Sammlern vom Amazonas. Einen Teil seiner Kindheit verbrachte er in einer Kommune am Mittleren Juruá, wo es keine elektrische Energie gab. “Licht in der Dunkelheit der Nacht nur mittels einer Kerze“, erzählt er, der zum ersten Mal eine elektrische Birne im Alter von sechs Jahren zu Gesicht bekam, nachdem seine Familie ins Munizip von Carauari umgezogen war. Jahre später zog die Familie weiter nach Manaus, wo der Vater anfing in einem Fotogeschäft seines älteren Bruders zu arbeiten. Und heute leitet er ein grosses Energie-Unternehmen, das jene Generatoren fabriziert, die in alle Winkel des Interiors des Bundesstaates Amazonas verkauft werden. Er hat keine Zweifel, dass die Schwierigkeiten seiner Kindheit in ihm den Wunsch gefestigt haben, das Leben zu meistern. “Der Mensch aus der Wildnis Amazoniens denkt einzig und allein an den Fortschritt“, bestätigt er.