Im Amazonas-Regenwald stehen nahezu 400 Milliarden Bäume, die 16.000 verschiedenen Arten angehören. Erstaunlich daran sind jedoch nicht die hohen Zahlen, sondern die Tatsache, dass lediglich die geringe Zahl von 227 Arten den Baumbestand des Urwaldes dominieren. Zu diesem Ergebnis kamen Wissenschaftler durch eine einzigartige Studie, an der sich über 120 Forscher weltweit beteiligten.
Über den Amazonas-Regenwald liegen bereits etliche Studien vor. Allerdings bezogen sich diese bisher nur auf jeweils kleine Teilbereiche. Zum ersten Mal haben sich Wissenschaftler nun aber der gewaltigen Aufgabe gestellt, die Bäume des Amazonas-Beckens zu zählen und zu klassifizieren. Keine leichte Aufgabe, zumal das Gebiet in großen Teilen nur schwer zugänglich ist und dazu eine Fläche von weit über sechs Millionen Quadratkilometern umfasst, eine Fläche in die ganz Europa zusammen genommen einige Male Platz finden würde.
Wissenschaftler und Studenten von über 120 Forschungseinrichtungen weltweit verteilten 1.170 Untersuchungsflächen auf die verschiedenen Regionen des Amazonas-Gebietes, um alle Hauptwaldtypen des Bioms erfassen zu können. In den Untersuchungsflächen zählten und bestimmten sie Bäume ab einer Stammdicke von zehn Zentimetern. Die erhobenen Daten speisten sie in ein gemeinsames System ein. Die Daten wiederum wurden unter der Leitung von Hans Steege vom Naturalis Biodiversity Center und der Universität Utrecht ausgewertet. Errechnet wurde dabei, dass im Amazonas-Urwald nahezu 400 Milliarden Bäume stehen, die wiederum 16.000 verschiedenen Arten angehören. Zum Vergleich: In ganz Deutschland gibt es nach Angaben der Schutzgemeinschaft Deutscher Wald (SDW) etwa 8 Milliarden Bäume und lediglich 76 verschiedene Baumarten.
Überraschend war für die Forscher jedoch, dass etwa die Hälfte aller Bäume des Urwaldes lediglich 227 verschiedenen Arten angehören. Damit dominieren 1,4 Prozent der insgesamt 16.000 Arten den gesamten Amazonas-Regenwald. Sie verteilen sich dabei allerdings nicht gleichmäßig auf den Regenwald. Vielmehr dominieren jeweils einzelne der 227 Baumarten bestimmte Regionen oder Waldtypen wie Sumpfgebiete oder Hochlandwälder. Lediglich der Nußbaum Eschweilera coreacea ist in sämtlichen Bereichen des Urwaldes in großer Zahl vorhanden, wie es im Bericht des Naturalis Biodiversity Centers heißt.
Noch rätseln die Wissenschaftler warum diese 227 Arten so stark vertreten sind. Es könnte sein, dass sie gegenüber den anderen Arten eine gewisse Wettbewerbsüberlegenheit aufweisen. Erstaunlich ist jedoch, dass die meisten der Hyperdominanten ausgerechnet Arten angehören, die wirtschaftlich genutzt werden. Eine These lautet deshalb, dass möglicherweise die indigenen Völker dazu beigetragen haben, dass sich diese Baumarten mehr verbreitet haben als andere. Möglich wäre es, dass sie von den Indios gezielt angebaut wurden, um etwa deren Früchte zu ernten. Fest steht, dass viele der betreffenden Arten heute von hohem wirtschaftlichen Wert sind und genutzt werden. Die Rede ist dabei nicht vom Gummibaum, sondern von Arten wie beispielsweise der Açai-Palme (Euterpe oleacea). Von deren Früchten werden unter anderem Kompott und ein sehr nahrhafter Saft gewonnen. Auch das Palmito, das Palmherz, ist nicht nur in Südamerika ein beliebtes Nahrungsmittel und Verkaufsschlager. Tausende Familien erhöhen ihr Einkommen mit dem Verkauf der Açai-Produkte. Mit landwirtschaftlichen Programmen wird zudem der Anbau der Açai-Palme gefördert. Archäologische Funde im Norden des Amazonasgebietes belegen zudem, dass die Indios den Wald in den Zeiten vor Christoph Kolumbus bereits landwirtschaftlich nutzten.
Artenreichtum und Seltenheit gehen in der sogenannten Grünen Lunge der Erde Hand in Hand. Während 1,4 Prozent der Arten die Hälfte des Waldes dominieren, machen 11.000 Baumarten gerade einmal 0,12 Prozent der insgesamt 390 Milliarden Bäume aus, wie im Wissenschaftsmagazin Science veröffentlicht wurde. Dabei sind ebenso äußerst seltene Spezies, über die nur wenig bekannt ist. Einige von ihnen kommen nur in geringer Zahl und in eng begrenzten Gebieten des Regenwaldes vor und sonst an keinem anderen Ort der Welt.
Mit Hilfe eines Modelles errechneten die Forscher zudem, dass etwa 6.000 der Baumarten mit weniger als tausend Exemplaren im Urwald vertreten sind. 36 Prozent der nachgewiesenen Arten werden somit als äußerst selten eingestuft und müssten eigentlich in die Rote Liste der bedrohten Pflanzenarten aufgenommen werden. Einige dieser Bäume sind sogar so selten, dass sie in dem riesigen Wald nur schwer zu finden sind, schwerer als eine Nadel im Heuhaufen, wie in einem Bericht des brasilianischen Portals über Studien zur Biodiversität (PPBio) nachzulesen ist. Über das Programm PPBio beteiligten sich auch 25 Brasilianer an der vorliegenden Untersuchung.
Mit der Bestandsaufnahme haben die Wissenschaftler somit erstmals geklärt, welche Bäume wie oft im Amazonasbecken vorkommen. Gleichzeitig haben sie aber auch für neue Fragen gesorgt. Sind die hyperdominanten Arten in der Lage, die große Vielfalt des Ökosystems Amazônia alleine zu tragen oder sind es die anderen 99 Prozent der Baumarten, denen eine tragende Funktion im System zukommt? Dies ist nur eine der vielen Fragen, welche die Wissenschaftler in den kommenden Jahren mit weiteren Untersuchungen zu klären hoffen.